Jetzt werden die Wälzlager schlau
12. August 2021Ein Startup will jetzt Wälzlager fit für die digitale Fertigung machen. Ein neues Messsytem soll jetzt im Inneren des Lagers dafür sorgen, dass Verschleiß und andere Daten direkt im Bauteil gemessen werden können. Das soll weder zusätzlichen Bauraum noch aufwändige Technik oder spezielle Sensoren benötigen.
Wälzlager sind überall dort im Einsatz, wo sich etwas dreht. Das Start-up HCP Sense möchte jetzt die Lager fit für die digitale Fertigung machen. Ausgegründet aus der TU Darmstadt und begleitet vom Innovations- und Gründungszentrum HIGHEST erprobt das Team gerade gemeinsam mit potenziellen Kunden aus der Industrie Prototypen, die in der Serienfertigung zum Einsatz kommen sollen.
Kräfte im Wälzlager messen
Lager sind während des Betriebes erheblichen Belastungen ausgesetzt. Alle Kräfte, die in einer Maschine wirken, haben Auswirkungen auf dieses Bauteil. Wenn zum Beispiel eine Küchenmaschine Teig knetet, wirken stärkere Kräfte auf das Lager ein als beim Rühren einer Sauce. Die Technologie, die zur Gründung von HCP Sense geführt hat, setzt an diesen Kräften an.
„Mit unseren qualitativ hochwertigen Daten wissen wir alles, was im Lager ankommt.“
Dr. Tobias Schirra, Gründer von HCP Sense und Maschinenbauingenieur
Basis für predictive maintenance
Direkt an der Quelle im laufenden Prozess gemessen und mit Hilfe von Algorithmen in Informationen umgewandelt ermöglichen diese Daten nicht nur Rückschlüsse auf den Zustand von Lager und Schmierstoff, sondern auch auf den gesamten Prozess. Dies bietet neue Potenziale für die vorausschauende Wartung, Überwachung und Optimierung von Getrieben und Antrieben.
Um die Kräfte am Lager kontinuierlich messen zu können, kommen wie bei anderen Bauteilen, die digital gemanagt werden auch, Sensoren in Frage. Das Problem: Der Einbau einer entsprechenden Sensorik im Lager ist nicht nur aufwändig, sondern vergrößert auch den Bauraum. Integrierte Sensoren kommen daher nur bei wenigen Spezialanwendungen zum Einsatz.
Patentiertes Messverfahren
„Die allermeisten Unternehmen haben daran kein Interesse, da der Aufwand den Mehrwert übersteigt“, erläutert Ansgar Thilmann, der im Gründungsteam zuständig ist für organisatorische und kaufmännische Fragen. Das patentierte neue Messverfahren, das die beiden Maschinenbauingenieure Schirra und Martin am Fachgebiet Produktentwicklung und Maschinenelemente (PMD) der TU Darmstadt entwickelt haben, soll das jetzt ändern.
„Mit unserem Sensorlager machen wir uns die elektrischen Eigenschaften des Wälzlagers selbst zunutze“, erläutert Elektrotechnikingenieurin Sarah Wicker. Das neue Sensorsystem misst den Wechselstromwiderstand, der im Wälzlager durch das Zusammenwirken von Schmiermittel und Wälzkörper entsteht und sich lastabhängig verändert. Eine Software wertet diese Messdaten aus, gleicht sie mit den Betriebsbedingungen des Lagers, zum Beispiel der Temperatur, Last, Geometrie oder Drehzahl, ab und dokumentiert die Ergebnisse der Messungen für die Betreiber der jeweiligen Maschine.
Auch für die Nachrüstung geeignet
Das Sensorlager aus dem Hause HCP Sense braucht keinen zusätzlichen Bauraum oder komplizierte Strukturveränderungen. Es taugt für neue Maschinen ebenso wie für die Nachrüstung bestehender Anlagen. Auf der Basis der Lastdaten, die es liefert, können Unternehmen ihre Wartungsplanung verbessern.
Ebenso können sie durch den Ausfall von Wälzlagern verursachte Maschinenstillstände verringern, den Fertigungsprozess optimieren und wirtschaftlicher gestalten oder perspektivisch auch neue digitale Geschäftsmodelle entwickeln – eine Produkt- und Geschäftsidee, die nicht nur die Beraterinnen und Berater von HIGHEST überzeugt, sondern auch die Industrie. Inzwischen ist ein Prototyp entstanden, den das Start-up unter anderem auf der Hannover Messe 2021 präsentiert hat.
Partner gesucht
Obwohl sie noch mitten im Gründungsprozess steht, fährt die zukünftige HCP Sense GmbH bereits zwei Entwicklungsprojekte mit Partnern, die den Prototypen in einer realen Produktionsumgebung erproben wollen. Derzeit finanziert das Gründungsteam sich selbst und sein Start-up aus den Mitteln des EXIST-Forschungstransfers. Wenn diese Förderung im September 2022 ausgelaufen ist, wollen die vier einiges erreicht haben.
Auf der Agenda stehen die Suche nach weiteren Pilotierungspartnern und nach Investoren, die sich von der Geschäftsidee begeistern lassen, der Einstieg in die Serienfertigung und nicht zuletzt „möglichst hohe Umsätze zu erzielen“. Bereut haben die Ingenieurin und die Ingenieure, die ursprünglich in der Grundlagenforschung gestartet sind, den Einstieg ins Geschäftsleben jedenfalls nicht. „Am Anfang steht man vor einem riesigen Berg“, sagt Ansgar Thilmann. „Aber dann baut man ihn Schritt für Schritt ab.“ Denen, die nach ihnen gründen wollen, empfiehlt er: „Einfach Vollgas geben und machen.“
Foto: NSK