Der Reifenhandel holt sich das Geschäft zurück
24. August 2021Der traditionelle Reifenhandel ist seit einigen Jahren in Bedrängnis. Er wird gleich von zwei Seiten angegriffen: vom Internet und von den Kfz-Werkstätten, die das Reifengeschäft naturgemäß gern mitnehmen. Jetzt scheint sich das Blatt etwas zu wenden.
„Der Reifen ist beim Online-Handel mit Autoteilen ein bisschen der Dinosaurier des E-Commerce,“ sagt Christian Koeper, E-Commerce-Experte im automotive Sektor. „Reifen sind einerseits ideal für den Onlinehandel: es geht um Markenartikel, die einfach zu beschreiben, recht hochpreisig und vom Kunden leicht zu identifizieren sind. Dieser muss lediglich die Daten von der Flanke abschreiben und los geht’s mit der Internet-Recherche.“ Diese Kriterien haben laut Koeper dazu geführt, dass die ersten Kfz-Teile, die erfolgreich online vermarktet wurden, die Reifen waren.
Reifenhandel: online nicht so einfach
„Hauptproblem bei Reifen im Online-Handel war und ist ihr Format. Reifen sind für den einfachen Paketversand nicht gut geeignet. Das führt dazu, dass manche Paketversender dieses Geschäft gar nicht haben oder es geringer priorisieren wollen,“ so Koeper weiter. Er weiß übrigens, wovon er spricht. Als die Verkaufsplattform eBay in Deutschland so richtig Fahrt aufnahm, war er für eBay Motors dabei.
Das online-Business hat ihn seitdem nicht losgelassen. In verschiedenen Positionen hat er den freien Teilemarkt gut kennengelernt: im Handel und in der Industrie. Zuletzt war er Chief Operating Officer bei der Saitow AG, die unter dem Namen „Tyre24“ eine Plattform für den Reifenhandel betreibt. Genau hier hat er das Reifengeschäft intensiv erlebt. Leichter ist es in den Jahren für den Reifenhandel jedoch nicht geworden.
Logistische Nachteile
„Auch wenn der Reifen in punkto Einfachheit des Produktes und Potenzial zur Ersparnis wirklich gut für das Internet-Business geeignet sind: seine logistischen Nachteile bzgl. Größe und Gewicht sowie die Anforderungen an schnellste Lieferung sind nicht zu unterschätzen. Dazu kommt, dass Kompletträder das genaue Gegenteil sind. Sie sind für den Autofahrer nur schwer zu bestellen und stellen auch den Online-Handel vor große Herausforderungen, von denen die Logistik nur eine ist. Zollgrößen, Einpresstiefen, Lochkreise, die Kompatibilität des Rades mit dem Fahrzeug sowie sich stetig ändernde, vom „Geschmack“ des Kunden abhängige Designs. Ein Alptraum im E-Commerce.“
Obendrauf die Tatsache, dass die Käufer inzwischen verwöhnt sind. Sie wollen nicht mehrere Tage auf die bestellte Ware warten, was aber bei Reifen und Kompletträdern häufig an der Tagesordnung ist. Das betrifft sowohl die Endverbraucher als auch die Profis. Die Reifenportale suchen auf die sich ungünstig verändernden Marktgegebenheiten im Bereich Reifen nach Antworten und finden ihr Heil in Umfeld der Kfz-Ersatzteile. Denn die sind – abgesehen von wenigen Ausnahmen – anders als die Reifen unter anderem wesentlich leichter,kostengünstiger und auch schneller zu transportieren.
Autofahrer ziehen sich vom Reifenhandel zurück
So wildern die Reifenspezis im Revier der Kfzler, die das ja schon seit vielen Jahren umgekehrt und in der Fläche genauso machen. War früher die Fahrt zum Reifenhändler für den Autofahrer an der Tagesordnung, so hält er sich heute damit in den wenigsten Fällen auf und lässt den Reifenkauf gleich von seiner Kfz-Werkstatt mit erledigen. Dabei ist ihm relativ egal, woher die Werkstatt die Reifen bezieht.
Die Reifenhändler hatten unterdessen ganz gut vom Flottengeschäft gelebt und während der Corona-Krise gemerkt, dass sie wohl jetzt etwas ändern müssen. Denn die Fahrleistungen der Flottenkunden sind merklich geschrumpft und damit auch der Verkauf von Reifen. „Der Privatkunde wurde in den letzten Jahren auch im klassischen Reifenhandel zur Prio B, da sich viele Händler stark auf Flotten konzentriert haben.. Diese Kunden sind vielfach in die Kfz-Werkstätten abgewandert, die ebenfalls Reifen anbieten,“ erläutert Christian Koeper.
Saisongeschäft ist problematisch
Und er nennt noch ein weiteres Problem im Reifenhandel: „Das Saisongeschäft ist freundlich ausgedrückt eine ungünstige Ausgangssituation. Wer stark vom Wetter abhängig ist und dagegen auch nur wenig tun kann, hat ein Problem, das er nur schlecht beherrschen kann.“ Ein weiterer Grund dafür, dass der Reifenhandel on- wie offline sein zusätzliches Heil bei den Kfz-Ersatzteilen gesucht hat. Wie unter anderem das Beispiel von Delticom verdeutlicht jedoch nicht immer und überall mit Erfolg.
In der Zwischenzeit hat sich gezeigt, dass beim Liefern der Reifen und auch der Ersatzteile die stationären Händler den Onlinehandel oftmals noch locker ausstechen. Das ist kein Wunder. Jahrzehntelang hat man an der perfekten Logistik gefeilt und ist in der Fläche ausgesprochen leistungsfähig. Bei den Reifen haben sich die stationären Reifengroßhändler bereits viel verlorenes Geschäft von der Online-Konkurrenz zurückgeholt. Sie können schneller und flexibler mit eigener Flotte liefern und stechen so locker den Paketdienst aus. Sie liefern nicht im Nachtsprung, sie liefern noch am selben Tag.
Portale schaffen Transparenz
Und immer öfter heißt es bei den online-recherchierenden Kunden: Online Preise vergleichen und dann offline kaufen. „Die Transparenz der Portale führt dazu, dass Endverbraucher und professionelle Kunden sehr genau wissen, was die Waren kosten dürfen. Wenn sie feststellen, dass der traditionelle Reifenhändler vor Ort beim Preis gut mithalten und dazu noch sehr schnell liefern und montieren kann, kaufen sie nicht selten dort,“ berichtet Christian Koeper.
„Inzwischen hat sich gezeigt: die ‚Plattformisierung‘ macht auch vor dem Geschäft mit Reifen und Kfz-Ersatzteilen nicht Halt,“ so Koeper weiter. „Am Ende könnte es so aussehen, wie es sich auch bereits in anderen Bereichen abzeichnet: Es wird Plattformen mit einem bestimmten Fokus geben, zum Beispiel Reifen. Und die nehmen das Geschäftspotential, zum Beispiel Kfz-Ersatzteile, rundherum mit. Auch die etablierten Plattformen haben bestimmte Schwerpunkte. Die Kunden wissen das und suchen die entsprechenden Artikel auf den relevanten Portalen. Wer hier seine Stärken gekonnt nutzt und den Markt vom Kerngeschäft her aufrollt, wird aller Voraussicht nach in Zukunft der Gewinner sein.“
Foto: Koeper
Netter Beitrag, aber Fakt ist, wer Reifen offline kauft, zahlt drauf. Reifen mit den bekannten Versandienstleistern stellt nach wie vor kein Problem dar. Einmal in Folie eingewickelt, Versandschein rauf und los gehts. Logischerweise sind die Betriebskosten eines offline Händlers höher, als von einem online Händler und somit sind die Preise der online Händler auch überwiegend deutlich günstiger, als beim Reifenhändler vor Ort. Dies ist zumindest unsere Erfahrung in Berlin.
Der Transport von Reifen wird von 2 Haupt-Carriern abgewickelt, namentlich DPD und GLS. Dass diese durch den allgemein steigenden eCommerce immer weniger „Lust“ auf den logistisch in diversen Dimensionen für sie nicht attraktiven Reifen haben ist ein offenes Geheimnis. Dies führt zum stetigen Anstieg der Versandkosten sowie zu zunehmend trägeren Laufzeiten.
Die Preise der Online-Händler mögen isoliert betrachtet günstiger sein – über Zeit wird der Onlinekauf von Reifen, für die am Ende immer noch eine Montage vor Ort benötigt wird, für den Kunden weniger attraktiv bzw. werden sich die Anbieter in der Fläche ein Stück des vermeintlich an das Web verlorenen Kuchens zurückholen.
Preis ist bei einem mit einer nicht wegzudiskutierenden Service-Komponente verwobenen Produktkategorie (gilt für Reifen, aber auch z.B. für Möbel, die einen Zusammenbau benötigen) nicht das einzige und zunehmend auch nicht das wichtigste Kriterium.